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„Die ambulanten Pflegekräfte stehen an der Front“

Mittwoch, 10. Juni 2020 – Autor: Anne Volkmann
Pflegekräfte sind in der Coronakrise wichtiger denn je und gleichzeitig besonders gefährdet. Das persönliche Engagement ist und bleibt dennoch hoch. Über Wertschätzung, Sicherheitsrisiken und die Gefahr der Selbstausbeutung in Pflegeberufen hat Gesundheitsstadt Berlin mit dem Pflegeexperten Thomas Meißner gesprochen.
Meissner

Thomas Meißner, Vorstandsmitglied beim AVG

Herr Meißner, vor kurzem hat die Bundesregierung beschlossen, den Beschäftigen in Pflegeeinrichtungen eine sogenannte Corona-Prämie in Höhe von 1.000 Euro zukommen zu lassen. Nach langer Diskussion haben sich nun auch die meisten Bundesländer bereit erklärt, das auf 1.500 Euro aufzustocken. Kann Geld die mangelnde Wertschätzung ersetzen?

Meißner: Geld ist natürlich wichtig. Wenn die Pflege besser bezahlt werden würde, besonders bei „ungünstigen“ Arbeitszeiten durch höhere Zuschläge, gäbe es auch nicht das Personalproblem, das wir heute haben. Und hätten wir mehr Fachkräfte, würde die Belastung sinken und der Beruf auch wieder mehr Spaß machen. Dennoch geht es auch unabhängig vom Geld um Wertschätzung. Viele Menschen glauben ja, Pflege sei einfach und auch unqualifizierte Kräfte könnten die meisten der Aufgaben erledigen. Dabei handelt es sich um einen hochprofessionellen Beruf. Sie lassen ja auch keinen Betonfacharbeiter eine Operation durchführen oder einen Arzt eine Statik berechnen! Bei der Pflege sollte es im Grunde nicht anders sein.

Sie vertreten speziell die ambulante Pflege. Welche besonderen Probleme stellen sich hier?

Meißner: Der ambulante Bereich ist in der Tat besonders belastet – und das in vielerlei Hinsicht. Vor allem ist er geprägt durch chronische Unterfinanzierung. So gibt es z. B. keine Sonn- oder Feiertagszuschläge, und auch Zuschläge für Nacht- oder Spätdienste werden von den Kostenträgern nicht übernommen. Für die Unternehmen werden Rücklagenbildung und nachhaltige Finanzplanungen immer schwieriger und vor allem kleinere Unternehmen sind diesen Anforderungen häufig nicht gewachsen. Dazu kommt eine ausufernde Bürokratie. Krankenkassen und auch Bezirksämter kürzen Leistungen und fordern gleichzeitig eine Fülle von Begründungen und Nachweisen, so dass der Aufwand für die Umsetzung einzelner Leistungen immer größer wird. Dabei wird Papier ohne Ende produziert, denn Digitalisierung findet quasi nicht statt. Das alles galt aber schon vor der Coronakrise.

Mittlerweile sind Tausende von Pflegekräften mit SARS-CoV-2 infiziert. Für wie gefährlich halten Sie die Arbeit zurzeit wirklich?

Meißner: Besonders am Anfang war es problematisch, weil die einfachsten Mittel wie Schutzmasken und Desinfektionsmittel nicht in ausreichendem Maße vorhanden waren. Das hat die Pflegekräfte in große Gefahr gebracht. Und nach wie vor sind sie einem hohen Risiko ausgesetzt. Gerade in der ambulanten Pflege stehen die Fach- und Pflegekräfte ja sozusagen „an der Front“. Hier gibt es keine Einrichtung, die man einfach abriegeln kann und für die Besuche verboten werden können, keine Trennwände bei der Versorgung und keinen einhaltbaren Mindestabstand. Dennoch sind die Pflegekräfte meiner Erfahrung nach sehr motiviert. Sie halten mit ihrem Einsatz die „Fahne“ bei der so wichtigen Versorgung der Pflegebedürftigen hoch.

Das heißt, Pflegekräfte neigen zur Selbstausbeutung?

Meißner: Ja, Pflegekräfte bleiben nicht zu Hause, selbst, wenn es gefährlich wird. Das hat sicher auch damit zu tun, dass der Pflegeberuf grundsätzlich empathische Menschen anzieht. Die sagen nicht Nein und lassen ihre Patienten im Stich. Man muss es wirklich deutlich sagen: Was hier gerade in der jetzigen Zeit geleistet wird, kann man mit Geld eigentlich gar nicht bezahlen. Dennoch sollte die Bezahlung natürlich deutlich angehoben werden!

Auch für die Patienten ist die Situation ja sehr bedrohlich. Was können Betroffene tun, wenn sie Sorgen haben, sich durch den Besuch des Pflegedienstes in Gefahr zu begeben?

Meißner: Zunächst muss man sagen, dass die Pflegedienste natürlich alles tun, um die Patienten zu schützen. Wer sich dennoch unsicher fühlt, kann überlegen, sich von der Familie versorgen zu lassen. Außerdem sollten natürlich auch die Patienten selbst an die notwendigen Schutzmaßnahmen denken. Aber sagen Sie das mal einem 95-jährigen, vielleicht demenzkranken Patienten – das ist dann schon schwierig. Auch die Familien sind hier gefragt, diesen Ängsten zu begegnen und für Vorsichtsmaßnahmen zu sorgen.

Gibt es aber nicht auch Grund zur Hoffnung? Schließlich wurde selten so viel darüber geredet, wie wichtig die Arbeit unserer Pflegekräfte ist, wie im Moment. Glauben Sie, dass sich dadurch etwas ändern wird?

Meißner: Solange Pflege nicht dauerhaft besser bezahlt wird, halte ich das für schwierig. Pflege benötigt unheimlich viel persönliches Engagement und dazu sind vor allem viele jungen Menschen nicht bereit – jedenfalls solange die Bezahlung nicht stimmt. Wir brauchen ein Zuschlagssystem, dass die ungünstigen Zeiten besser vergütet und damit belohnt. Ich will mal provozieren: Wir wären dann auf dem richtigen Weg, wenn die Menschen sich darum reißen würden, Nacht- und Feiertagsschichten zu übernehmen, weil sie so gut bezahlt werden würden. Dann gäbe es auch mehr Fachkräfte in der pflegerischen Versorgung.

Eine letzte Frage: Was halten Sie von der Akademisierung der Pflege? Kann dies Ihrer Meinung nach die Wertschätzung erhöhen?

Meißner: Eindeutig Ja – leider geht es aber so einfach nicht. Das ganze Gesundheitssystem bedarf einer neuen Struktur, nämlich weg von der Arztzentrierung hin zur Kompetenzorientierung. Das geht nicht gegen die Ärzte, sondern hat das Ziel einer stärkeren Patientenorientierung. „Teamarbeit auf Augenhöhe“ ist das Stichwort. Darin sind uns andere Ländern übrigens weit voraus. Auch die Aufgaben müssen in diesem Zusammenhang neu verteilt werden – dazu brauchen wir aber neue Lern- und Vermittlungsansätze. Pflege ist hoch professionell und anspruchsvoll. Die Hebammen haben hier gerade eine wichtige Hürde genommen, nun muss die Pflege nachziehen. Die Weiterentwicklung des Pflegeberufes wird nachhaltig die Attraktivität dieses Arbeitsfeldes erhöhen.

Thomas Meißner ist Vorstandsmitglied des Anbieterverbandes qualitätsorientierter Gesundheitspflegeeinrichtungen e.V. (AVG) und Mitglied im Deutschen Pflegerat e.V. (DPR).

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