Demografischer Wandel: Aufbruchstimmung trotz großer Herausforderungen
Zum fünften Demografiekongress in Berlin waren über 800 Teilnehmern aus Politik, Wohn-, Sozial- und Gesundheitswirtschaft gekommen, darunter Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD). Am Ende des zweitägigen Demografie-Marathons, der unter der Schirmherrschaft zweier Bundesministerien stand, zog Kongresspräsident Ulf Fink eine ausgesprochen positive Bilanz: „Wenn ich mir anschaue, was sich Menschen einfallen lassen, um den demografischen Wandel mitzugestalten, muss ich sagen: Deutschland ist tatsächlich ein Land der Ideen und hat das Potenzial, Vorreiter bei der Entwicklung demografiefester Konzepte und Produkte zu werden.“ So wurden auf dem Kongress in über 30 Vorträgen und einer begleitenden Fachausstellung zum Teil verblüffende Lösungsansätze aus den Bereichen Wohnen, Gesundheit, Arbeit vorgestellt – vom intelligenten Assistenzsystem über engagierte Stadtteilkümmerer bis hin zu rollenden Arztpraxen auf dem Land. Ulf Fink: „Wir wollen die Augen vor den riesigen Herausforderungen, die der demografische Wandel mit sich bringt, nicht verschließen. Ganz im Gegenteil. Wir wollen die vielen neuen Chancen aufzeigen, die sich für Wirtschaft und Gesellschaft hieraus ergeben.“
Wo die größten Herausforderungen und Chancen liegen? Ein Überblick
Wohnen in der Stadt: Der größte Wunsch aller Menschen ist es, in den eigenen vier Wänden alt zu werden, so das Ergebnis zahlreicher Umfragen. Die größte Herausforderung heißt deshalb, altersgerechten Wohnraum zu schaffen. Weil es aber mit dem Umbau allein nicht getan ist, versuchen Städte und Kommunen ganze altersgerechte Quartiere zu schaffen. Nach Möglichkeit sind die mit jungen Familien durchmischt. Die Stadt Frankfurt am Main investiert zum Beispiel schon seit 15 Jahren jedes Jahr 1,5 Millionen Euro in ihr „Frankfurter Modell – Aktive Nachbarschaft“. „Ziel des Programms ist es, im Quartier aktive Nachbarschaften aufzubauen und so zu unterstützen, dass Potenziale der Selbsthilfemöglichkeiten optimal genutzt werden können“, sagte Horst Schulmeyer, Leiter des Frankfurter Programms. Pro Quartier gebe es einen fest angestellten Quartiersmanager, der die Nachbarschaft ganz genau kenne und festlege, ob das Geld etwa besser in eine neue Begegnungsstätte oder in eine Seniorensportgruppe gesteckt werde. Wie auch in anderen Städten sind im Frankfurter Quartiersmanagement Träger wie Caritas, Arbeiterwohlfahrt und Diakonie sowie Wohnungsbaugesellschaften, aber auch ehrenamtliche Helfer mit an Bord.
Wohnen auf dem Land: Ländliche Regionen stehen hingegen noch vor ganz anderen Problemen als Städte. Hier geht es augenblicklich eher darum, dem Ärztemangel entgegenzuwirken und Senioren Mobilität zu ermöglichen. Die Grafschaft Bentheim nahe der holländischen Grenze schickt etwa eine „Rollende Praxis“ von Dorf zu Dorf, bietet Medizinstudenten 500 Euro pro Monat, wenn diese zusichern, sich nach dem Studium für mindestens fünf Jahre im Landkreis niederzulassen, und lockt niederlassungswillige Ärzte mit einem Umzugskostenzuschuss. Weiter gibt es nach Auskunft von Landrat Friedrich Kethorn Bürgerbusse mit ehrenamtlichen Fahrern, vergünstigte Tickets für Rentner, E-Bike-Schulungen oder einen Begleitservice ins Theater, damit Senioren in der Region weiter am sozialen Leben teilhaben können. Ob auf dem Land oder in Stadt: Ohne Ehrenamtliche ginge vieles nicht, wurde auf dem Demografiekongress mehrfach betont. Gleichzeitig sei das Ehrenamt aber auch für viele ältere Menschen eine sinnvolle Möglichkeit, sich aktiv in die Gesellschaft einzubringen.
Gesundheit: Die größte Baustelle ist die wachsende Zahl der Pflegebedürftigen, die Prognosen zufolge bis zum Jahr 2050 von derzeit 2,5 Millionen auf 4,5 Millionen steigen soll. Während der Fachkräftemangel in der Pflege bislang ungelöst scheint, ist in die Prävention mächtig Bewegung gekommen. Auch hier kommen Quartierslösungen eine herausragende Bedeutung zu, war auf dem Demografiekongress zu hören. Schließlich weiß man aus Studien, dass Menschen seltener pflegebedürftig werden, wenn das soziale Umfeld stimmt. So werden vielerorts wohnortnahe (Gesundheits-) Dienstleistungen mit sozialen Angeboten verknüpft, was Menschen trotz Pflegebedürftigkeit ein Leben im eigenen Zuhause ermöglichen soll. Allein aus Kostengründen setzt die Stadt Dortmund derzeit auf Prävention und investiert nach Angaben von Josef Hilbert, Professor an der Bochumer Hochschule für Gesundheit, jedes Jahr 1,5 Millionen in ein speziell auf Gesundheit ausgerichtetes Quartiersmanagement. In der Stadt, wo überdurchschnittlich viele Menschen mit Migrationshintergrund und niedrigem Bildungsstand leben, explodierten augenblicklich die Kosten für die Gesundheitsversorgung, berichtete Hilbert. „Die Stadt Dortmund erhofft sich von ihrem Programm, Menschen vor der stationären Pflege zu bewahren und somit rund 3,5 Millionen Euro an Sozialhilfe einzusparen“, so der Gesundheitswissenschaftler. Seine Hochschule wird ab kommendem Jahr übrigens spezielles Personal für derartige Präventionsangebote ausbilden. Der berufsbegleitende Studiengang „Gesundheitsorientierte Sozialraumgestaltung GOS“ wird bundesweit der erste akademische Lehrgang für Quartiersmanager sein.
Auch Assistenzsysteme wie etwa der berühmte Notrufknopf sollen es älteren Menschen trotz gesundheitlicher Einschränkungen ermöglichen, in den eigenen vier Wänden wohnen zubleiben. Derartige AAL-Systeme seien zwar in Fülle vorhanden, hieß es. Mit der Umsetzung und Finanzierung tue sich Deutschland jedoch derzeit noch schwer: „Die Technik haben wir - aber an der sinnvollen Integration müssen wir noch arbeiten“, lautete das Fazit eines AAL-Workshops auf dem Demografiekongress.
Arbeit: Die Probleme sind bekannt. Fachkräftemangel auf der einen, zu wenig altersgerechte Arbeitsplätz auf der anderen Seite, Stress und Arbeitsverdichtung obendrein – die Liste hört nicht auf. Die gute Nachricht: Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hat all das ganz oben auf ihrer Agenda und will vor allem bei dem Dreigespann flexiblere Arbeitszeitgestaltung, lebenslange Weiterbildung und betriebliche Gesundheitsförderung (unter anderem Anti-Stress-Programme), politische Akzente setzen. Nahles: „In großen Unternehmen funktionieren diese Maßnahmen schon recht gut, bei kleinen und mittleren Betrieben müssen wir noch nachlegen.“ Genau wie die Arbeitgeberseite verspricht sich die Ministerin von diesen drei Säulen, mehr Menschen länger in Lohn und Brot zu halten bzw. zu bringen. „Jeder wird in diesem Land gebraucht“, bekräftigte Nahles. Dass Deutschland neben Schweden im europäischen Vergleich die höchste Zahl an Arbeitnehmern über 50 Jahren hat, wertete die Ministerin indes als großen Erfolg. Eine von vielen möglichen Erklärungen dafür lieferte BDA-Vizepräsident Dr. Rainer Dulger. „Die Arbeitsplätze in der Industrie sind dank technischer Weiterentwicklungen immer gesünder geworden - und damit alterstauglicher“, meinte der Arbeitgebervertreter. Zudem investiere die Industrie mehr und mehr in die Weiterbildung ihrer Mitarbeiter, und zwar ganze vier Milliarden Euro pro Jahr.
Die derzeit größte Baustelle sahen die Arbeitsmarktexperten daher gar nichtunbedingt in der Frage, wie ältere länger erwerbstätig bleiben können, sondern wie man angesichts von eineinhalb Millionen Jugendlichen ohne jede Ausbildung den dringend benötigten Nachwuchs gewinnt.
Arbeit und Gesundheit: Gerade deshalb bemühen sich immer mehr Unternehmen, ihre (alternde) Belegschaft fit zu halten. Während die Bundesregierung das Rehabilitations-Budget erhöht hat, um dem Grundsatz Reha vor Rente Nachdruck zu verleihen, werden mehr und mehr Unternehmen in der Betrieblichen Gesundheitsförderung aktiv. „Die betriebliche Gesundheitsförderung ist vielerorts kein Nice-to-have, sondern im betrieblichen Alltag verankert“, sagte Regina Kraushaar, Abteilungsleiterin Pflegesicherung und Prävention im Bundesgesundheitsministerium (BMG), und versprach: Im Präventionsgesetz habe die Betriebliche Gesundheitsförderung einen festen Platz. Hier wolle man ein besonderes Augenmerk auf die kleinen und mittleren Betriebe legen, etwa durch Netzwerkbildungen mit den Krankenkassen. Christian Klose, Geschäftsführer Markt der AOK Nordost, unterstrich, dass sich die Gesundheitsförderung für die Betriebe rechne. Er zitierte Studien, wonach der Return of Invest 1 zu 4 bis 1 zu 10 beträgt.
Ausblick
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