
Gutachten zu Zahnspangen: Wenn ein Nutzen nicht belegt ist, heißt das nicht, dass es ihn nicht gibt
Jedes zweite Kind in Deutschland bekommt sie irgendwann: die Zahnspange. Was so selbstverständlich ist wie das Hörgerät oder die Brille im Alter, wird nun plötzlich in Zweifel gezogen. Bereits im April hatte der Bundesrechnungshof die hohen Kosten für kieferorthopädische Behandlungen in Höhe von über einer Milliarde Euro im Jahr bzw. die fehlende Versorgungsforschung moniert. Nach offizieller Lesart hat daraufhin Bundesgesundheitsminister Jens Spahn beim IGES-Institut ein Gutachten in Auftrag gegeben.
Wenige Studien zum medizinischen Nutzen von Zahnspangen
Die soeben veröffentlichten Ergebnisse der Meta-Analyse zeigen, dass die Studienlage zum medizinischen Nutzen von Zahnspangen unbefriedigend ist. Das heißt: Es liegen kaum gute Studien zur Mundgesundheit vor. Mehr nicht. Daraus zu schlussfolgern, dass Zahnspangen nutzlos sind, kann man nicht. Und die Autoren tun dies auch nicht. Sie kommen zwar zu dem Ergebnis, dass die Datengrundlage derzeit nicht ausreicht, um den Nutzen kieferorthopädischer Behandlungen abschließend zu beurteilen. Wörtlich: „Ein patientenrelevanter Nutzen bezogen auf Morbidität, also Karies, Zahnausfall, etc. ist zwar nicht belegt. Das heißt aber nicht, dass es ihn nicht gibt….“
Dafür konnten die Studien-Autoren einen anderen Nutzen finden, nämlich dass sich Zahnfehlstellungen sowie die Lebensqualität der Patienten durch diese Behandlung sehr wohl verbessern.
Der Körper ist ein Gesamtsystem
Letzteres müsste eigentlich genügen, damit die Zahnspange eine Kassenleistung bleibt. Zahnfehlstellungen bzw. ein falscher Aufbiss haben weitreichende Folgen auf Mund, Kiefer, Gesicht und letztlich auf den gesamten Halteapparat des Menschen. Mitunter können derartige Fehlstellungen sogar Schielen und (falsche) ADHS-Diagnosen nach sich ziehen. Schließlich ist der Körper ein Gesamtsystem. Und: Noch gilt in Deutschland die Devise, dass man an den Zähnen nicht den sozialen Status des Menschen erkennen soll.
Kieferorthopäden widersprechen
Für den Berufsverband der Deutschen Kieferorthopäden steht der medizinische Nutzen kieferorthopädischer Behandlungen jedenfalls nicht in Frage. Dieser sei auch durch Studien belegt, widersprach der BDK-Bundesvorsitzende Dr. Hans-Jürgen Köning dem Vorwurf, mit Zahnspangen würde abgezockt. „Zahn und Kieferfehlstellungen sind eine behandlungsbedürftige Krankheit,“ sagte er. Für gesetzlich Versichertes sei der Leistungsanspruch bereits eingeschränkt, fügte er hinzu, „da nur Zahn- bzw. Kieferfehlstellungen ab einem bestimmten Schweregrad auf Kosten der Kassen behandelt werden können.“
Nichtsdestotrotz will das Bundesgesundheitsministerium nun mit den beteiligten Organisationen den weiteren Forschungsbedarf und weitere Handlungsempfehlungen erörtern. In Deutschland bewertet der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) den Nutzen einer Therapie.
Eine Frage des Evidenz-Levels
Müsste der Ausschuss jetzt jede medizinische Maßnahme auf ihre Evidenz überprüfen, bliebe wohl im Leistungskatalog der Kassen nicht viel übrig. Schätzungen zufolge sind weniger als die Hälfte aller schulmedizinischen Behandlungsmaßnahmen evidenzbasiert. Wasserdichte Belege für den Nutzen einer Therapie gibt es nämlich nur dort, wo es auch genügend gute Studien gibt. Gerade bei pädiatrischen Behandlungen ist die Evidenzlage generell dünn. Aber auch in der viel besser erforschten Onkologie ist längst nicht alles so wissenschaftlich belegt, wie viele glauben.
Nach einer 2013 erschienen Arbeit über die Leitlinien in der Onkologie entsprechen nur sechs Prozent der Empfehlungen dem Evidenz-Level 1, was bedeutet, dass gute randomisierte, klinische Studien vorliegen. 94 Prozent basieren dagegen auf geringer Evidenz oder Expertenmeinungen. Das bedeutet aber nicht, dass über 90 Prozent der Krebstherapien nutzlos sind.