Coronavirus: Schaffen wir das?

Coronavirus: Auch für das hochentwickelte deutsche Gesundheitssystem ist der Erreger ein Risikofaktor. – Foto: ©shintartanya - stock.adobe.com
„Deutschland hat das beste Gesundheitssystem der Welt“: Keine Überraschung, dass Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) von Amts wegen Zuversicht verbreitet, während das Corona-Virus wieder näher kommt. Innerhalb kürzester Zeit hat sich der Erreger in Italien auf unerklärliche Weise ausgebreitet und das Land zum größten Herd des Virus in Europa gemacht. Sieben Tote, mehr als 230 Infizierte gibt es innerhalb weniger Tage. Österreich hat bereits präventiv den Zugverkehr nach Italien gekappt. Und niemand weiß, ob das Virus nicht längst wieder in Deutschland ist – wegen des oft soften Anfangsverlaufs leicht unerkannt.
Bettenkapazität für gefährliche Infektionskrankheiten: „60 – maximal“
Auch wenn die bislang ersten Corona-Fälle rund um einen Münchner Autozulieferer mit China-Kontakt erfolgreich unter Kontrolle gebracht werden konnten: 16 Fälle waren für das Gesundheitssystem organisatorisch und personell verkraftbar. Wenn es aber plötzlich sehr viel mehr werden, könnte es eng werden. Auch der Virologe Alexander Kekulé von der Universität Halle-Wittenberg warnt deshalb davor, das Coronavirus in Deutschland auf die leichte Schulter zu nehmen. „Das, was da in Norditalien passiert ist, hätte ganz genau so auch in Deutschland passieren können - und wir sind da kein Stück besser vorbereitet als die Italiener", sagte Kekulé in den ARD-Tagesthemen. Für einen Massenanfall fehlten auch in Deutschland qualifizierte Kapazitäten: Diese Hochinfektionszentren, in denen die ersten Fälle behandelt worden seien, verfügten über „60 Plätze maximal“. Bei Verhältnissen wie aktuell in Italien sei Deutschland „ganz schnell an dem Punkt, wo normale Krankenhäuser solche Patienten behandeln müssten".
„Krankenhauspersonal viel stärker gefährdet als bei der Grippe"
Nach Berechnungen von Bernd Mühlbauer, Professor für Gesundheitsmanagement an der Westfälischen Hochschule Gelsenkirchen, gäbe es zwar genug Akutbetten, aber zu wenig Pflegepersonal für die Betreuung der Patienten. Bei maximaler Auslastung aller verfügbaren Krankenhausbetten und einer Isolationsdauer infizierter Patienten von etwa zwei Wochen könnten in Deutschland theoretisch fast zwei Millionen Patienten im Jahr versorgt werden, sagt Mühlbauer. „Tatsächlich ist es aber nur ein Drittel davon, wenn die Patienten in Einzelzimmern isoliert werden müssen. Das führt zu einer durchschnittlichen Aufnahmekapazität von einem Patienten pro Tag und Krankenhaus.“ Dass sich die Patienten jedoch statistisch gleichmäßig verteilten, sei kaum zu erwarten.
Das Nadelöhr für die Patientenbetreuung ist für Mühlbauer die ohnehin knappe Personallage in den Krankenhäusern: „Zusätzliches Personal ist faktisch nicht zu beschaffen.“ Und das vorhandene drohe schnell zu verschleißen. Ganz grundsätzlich sei das Krankenhauspersonal „bei dem Coronavirus viel stärker gefährdet ist als bei der Grippe", sagte Virologe Kekulé. Deshalb müssten sich die Krankenhäuser und ihre Mitarbeiter besser vorbereiten.
„Bei 300 Fällen sind auch die deutschen Behörden überfordert“
In Italien, sagt Kekulé weiter, seien Coronavirus-Infektionen wegen ihres weichen Verlaufs als Erkältungen fehlinterpretiert worden. Daraus müsse Deutschland seine Schlüsse ziehen. Der Virologe von der Uni Halle-Wittenberg schlug in den ARD-Tagesthemen vor, flächendeckend alle Grippefälle und schweren Erkältungen sofort auch auf Corona zu testen, um die Herkunft zu klären und die Infektionskette zu durchbrechen. „Das ist die einzige Möglichkeit, quasi ein Netz über Deutschland zu legen und so einen einzelnen Fall oder einen kleinen Ausbruch frühzeitig zu erkennen." Bei 20 bis 30 Fällen könne das Gesundheitsamt gut handeln, Kontakte nachverfolgen und die „glimmende Zigarette austreten, bevor sie einen Waldbrand verursacht". Bei 200 bis 300 Fällen seien dann aber auch die deutschen Gesundheitsbehörden überfordert.
Virologe Kekulé: „Corona gefährlicher als Grippe“
Kekulé bezeichnete das neu entstandene Coronavirus als „auf jeden Fall gefährlicher als die Grippe“ und widersprach damit ausdrücklich den offiziellen Bekundungen von Politik und Gesundheitsbehörden. Die Sterblichkeitsquote liege bei 0,5 bis einem Prozent – bei Grippe nur bei einem Promille. Freilich sei die Zahl der Infizierten und Erkrankten gemessen an der Gesamtbevölkerung überall deutlich niedriger als bei der Grippe.
RKI-Präsident: Grippewelle 2017/2018 war dramatischer
Der Präsident des Berliner Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, erinnerte inzwischen an die Grippewelle aus dem Winter 2017/2018. Zehn Millionen Arztbesuche habe es damals gegeben. „Das ist eine riesige Zahl. Da war das Gesundheitssystem am Rande, das muss man ganz klar sagen“, sagte Wieler im ZDF-Morgenmagazin. Mit einer derartigen Verschlimmerung sei bei Corona aber nicht zu rechnen, die Zahl der Fälle sei überschaubar. 2017/2018 habe sich aber auch gezeigt, dass „das deutsche Gesundheitssystem in der Lage ist, viele Fälle zu managen“. Nach Angaben des Virologen Kekulé gibt es auch mit dem Näherkommen des Frühlings zugleich Grund für Optimismus: Die meisten Erkältungserreger verschwänden mit steigenden Außentemperaturen. So könne es sein, „dass die Welle abschwappt, bevor sie in Deutschland richtig zuschlägt."
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