Corona-Pandemie und Altersdiskriminierung: „Der Mensch zählt, nicht seine Lebensjahre”
Prominente riefen in einem internationalen Appell dazu auf, das Leben alter Menschen in der Coronakrise nicht abzuwerten. Unterzeichner des Appells sind unter anderen der Philosoph Jürgen Habermas, die ehemalige Bundesbildungsministerin Annette Schawan und der ehemalige Präsident der EU-Kommission Romano Prodi. Sie fordern eine "moralische Revolte".
Wird das Leben alter Menschen in der Coronakrise als zweitrangig betrachtet? Über Altersdiskriminierung in Pandemie-Zeiten sprach Gesundheitsstadt Berlin mit Prof. Barbara John, Vorstandsvorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Berlin und Vorsitzende des Beirats der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, in einem Podcast.
"Der Mensch zählt, nicht seine Lebensjahre"
Die abwertenden Kommentare, die derzeit laut werden, erinnerten sie an eine Debatte von 2003. Damals erklärte der Chef der Jungen Union, über 80-jährige bräuchten kein künstliches Hüftgelenk mehr. "Da brach sich ein bestimmtes Denken Bahn. Doch der Mensch zählt, nicht seine Lebensjahre", betont die 82-jährige CDU-Politikerin.
Dieses Denken sei in Corona-Zeiten wieder aufgetreten. Dahinter stehe die Vorstellung einer in Generationen gespaltenen Bevölkerung. Jede Generation bekommt ihre Zuteilung. Und die Alten bekommen weniger, weil sie nicht mehr so lange leben. "Das ist undemokratisch und amoralisch. Jeder Mensch ist gleich viel Wert", sagt John, lange Jahre Ausländerbeauftragte des Berliner Senats.
In der Medizin werden nicht nur Jüngere behandelt
"Total daneben" fand sie auch den Kommentar des Tübinger Oberbürgermeisters Boris Palmer (Grüne), der zu den Corona-Schutzmaßnahmen sagte: "Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären - aufgrund ihres Alters und ihrer Vorerkrankungen." John: "Woher weiß man, wie lang ein Mensch noch lebt? Vielleicht hat ein junger, gesunder in einem halben Jahr einen tödlichen Unfall? Das Leben von Menschen ist heilig."
Sicher habe ein 80-jähriger keine Lebenswerwartung mehr von 40 Jahren - sondern bestenfalls von 20 Jahren. Aber in der Medizin werde ja auch nicht gesagt: Wie behandeln nur die Jüngeren. "Die Jüngeren haben mehr Kraft, bessere Überlebenschancen. Gerade die Alten brauchen eine Spritze mehr oder einen zusätzlichen Tag im Krankenhaus."
Schwarzer Peter für die Älteren
Als Risikogruppe werde den Älteren in der Diskussion über die nötigen Infektionsschutzmaßnahmen der Schwarze Peter zugeschoben. Denn sie seien diejenigen, die eher erkranken, mehr Pflege benötigen und für die die Krankenhausbetten bereitgestellt werden müssen - "wobei das nur in Teilen stimmt". Da gelangen dann einige zu der Ansicht: "Wenn die nicht wären, könnten wir so weiterleben wie bisher."
Diese Diskussion habe aber Diskussionen in eine andere Richtung angestoßen: "Wir müssen uns mit dem Thema beschäftigen, weil Pandemien wiederkommen. Keine Politik, kein Politiker kann uns davor bewahren. Wir müssen zurückkehren zu der Einsicht, dass man zusammenarbeiten muss".
Generationen müssen zusammenhalten
Ein positives Beispiel dafür seien die vielen jungen Leute aus ihrer Nachbarschaft, die ihr zu Beginn des Corona-Lockdowns anboten, für sie Einkäufe zu übernehmen. "Das war ein Ausdruck dafür, dass die Generationen zusammenhalten." John hat weiter selber eingekauft, aber eine Freundin mitversorgt, die wegen einer Bronchialerkrankung zu Hause bleiben musste.
"Es gibt einen vietnamesischen Spruch, den ich gern zitiere: Wenn Du aus einem Brunnen trinkst, denk an den Erbauer". In Asien genieße das Alter ein hohes Ansehen. "Wir brauchen ein verändertes Altersbild. Ich sage immer: Alter hat heute Zukunft, denn Senioren können noch ein langes, gesundes Leben führen".
Foto: Britta Pedersen