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Blitzgewitter im Kopf

Donnerstag, 1. Juli 2010 – Autor:
Interview mit Dr. med. Axel Panzer, Neuropädiater und Leiter des Epilepsie-Zentrums an den DRK Kliniken Berlin I Westend
Dr. med. Axel Panzer

Dr. med. Axel Panzer

Herr Dr. Panzer, Epilepsien gehören bei Kindern und Jugendlichen zu den häufigsten chronischen Erkrankungen. Was passiert eigentlich bei einem epileptischen Anfall?

Panzer: Die Nervenzellen, die sonst hochgradig differenziert arbeiten, werden bei einem Anfall synchronisiert, das heisst sie entladen sich gleichzeitig, jedoch ohne dass etwas Sinnvolles passiert. Bei dieser hochfrequenten Aktivität verbraucht das Gehirn enorm viel Energie. Deshalb ist das Kind nach einem Anfall erschöpft und müde. Dieses Muster trifft auf alle epileptischen Anfälle zu, egal wodurch sie ausgelöst werden.

Wodurch werden epileptische Anfälle denn ausgelöst?

Panzer: Ein epileptischer Anfall ist erstmal ein Krankheitssymptom und kann viele Ursachen haben. Jedwede Irritation im Gehirn kann einen Anfall auslösen, etwa ein Hirntumor, eine Hirnhautentzündung oder ein zu niedriger Zucker- oder Magnesiumspiegel im Blut. Ein Anfall kann auch durch einen Sturz auf den Kopf provoziert werden oder durch ansteigendes Fieber, das dann den Fieberkrampf auslöst. Und natürlich kann eine kleine Fehlbildung des Gehirns oder eine Epilepsie im eigentlichen Sinne dahinter stecken.

Wenn ein Kind nach einem Anfall zu Ihnen ins Epilepsie-Zentrum kommt, ist also gar nicht klar, dass es eine Epilepsie hat?

Panzer: Nein, die Ursachen sind erstmal völlig unklar und müssen diagnostisch abgeklärt werden. Epilepsien lassen sich im EEG in der Regel sehr gut nachweisen. Anhand der Hirnstrommessungen, der Form der Anfälle und der Gesamtperformance des Kindes können wir ziemlich genau sagen, an welcher Epilepsieform das Kind erkrankt ist.

Es gibt zahlreiche Formen der Epilepsie, welche kommt bei Kindern und Jugendlichen am häufigsten vor?

Panzer: Die häufigsten Epilepsieformen sind die entwicklungsabhängigen Epilepsien. Dazu gehören die idiopathischen Partialepilepsien und die idiopathischen generalisierten Epilepsien. Sie treten meist zwischen dem 1. und dem 10. Lebensjahr auf, und entstehen aufgrund von natürlichen Veränderungen im Neurotransmitter-Stoffwechselhaushalt während der Reifung. Das Gute ist: Beide Epilepsieformen verschwinden oft auch wieder, manchmal nach wenigen Monaten, manchmal erst nach vielen Jahren. Aber sie haben eine gute Prognose und sie sind gut behandelbar.

Das war die gute Nachricht. Wie sieht die Prognose bei anderen Epilepsieformen aus?

Panzer: Es gibt Kinder mit angeborenen Stoffwechselstörungen oder angeborenen Fehlbildungen des Gehirns. Andere haben einen Schlaganfall unter der Geburt erlitten, der eine Narbe hinterlassen hat. Solche Störungen können in einem bestimmten Alter zu einer Irritation der Erregungsbildung und zu Anfällen führen. Diese Kinder sind weitaus schwerer zu behandeln, aber auch sie haben eine Chance auf Heilung. In unserem Epilepsie-Zentrum sehen wir selbstverständlich auch die a-typischen Fälle, also Kinder mit komplexen Epilepsien, für die man hoch spezialisierte Ansätze braucht.

Der erste Anfall kann der Beginn einer Epilepsie sein. Sicher eine dramatische Erfahrung für die Eltern...

Panzer: Beim ersten grossen Anfall sind die Eltern in maximaler Panik. Weil das Kind die Augen verdreht und nicht reagiert, denken sie, es stirbt. Diese Eltern kommen dann in unsere Klinik, meist ist dann der Anfall schon vorüber.

Sind denn alle Anfälle gleich dramatisch?

Panzer: Die Anfälle sehen sehr unterschiedlich aus, je nachdem, welche Hirnregion betroffen ist. Wenn das ganze Grosshirn betroffen ist, verliert das Kind das Bewussteisen. Dann fällt es hin, verdreht die Augen und wir sehen nur noch ein Zucken, Schlaffheit oder Überstecken. In diesem Fall sprechen wir von einem Grand Mal. Bei den fokalen Anfällen ist nur eine bestimmte Region des Gehirns betroffen, etwa jene, die zuständig für Sprache und die Gesichtsmuskulatur ist. Die Kinder können dann nicht sprechen, sind aber bei vollem Bewusstsein. Fokale Anfälle können sich aber auch ausbreiten und schliesslich das ganze Gehirn in Mitleidenschaft ziehen.

Diese grossen Anfälle sind ja nicht ungefährlich für das Kind, können Schädigungen des Gehirns zurückbleiben?

Panzer: Das grösste Risiko bei einem Anfall ist die Verletzungsgefahr und dass sich der Anfall zu einem lang andauernden "Status Epilepticus" entwickelt. Hierfür sind die Eltern mit einem krampflösenden Medikament ausgestattet, das den Anfall unterbricht. Wenn das nicht gelingt und der Anfall sehr lange dauert, kann es zu Schädigungen des Gehirns kommen. Aber normalerweise ist ein epileptischer Anfall, der nicht länger als drei bis vier Minuten dauert, ungefährlich. Anders sieht es aus, wenn ein Kind mehrere Anfälle am Tag hat. Diese Kinder sollte man unbedingt medikamentös behandeln.

Wie erfolgreich ist denn eine medikamentöse Therapie?

Panzer: Über 70 Prozent unserer Patienten lassen sich gut mit Antiepileptika einstellen. Sie vertragen diese Medikamente gut und werden vor allem in ihrer Entwicklung nicht gehemmt. Man muss sich vorstellen, dass es gar nicht so einfach ist, einerseits die Erregbarkeit der Nervenzellmembran runterzudimmen, und andererseits die volle kognitive Leistungsfähigkeit zu erhalten. Glücklicherweise haben wir sehr viele unterschiedliche Substanzen, die dieses Gleichgewicht herstellen können.

Welche Optionen haben die Kinder, die nicht auf eine medikamentöse Therapie ansprechen?

Panzer: Seit etwa 15 Jahren ist der epilepsiechirurgischer Eingriff zu einem ganz wichtigen Punkt in der Behandlung geworden. Etwa dann, wenn eine Narbe, eine Fehlbildung oder eine andere Strukturstörung im Gehirn der Ausgangspunkt für die Epilepsie ist. Wir prüfen diese Möglichkeit schon sehr früh. Am Ende bleiben nur wenige Kinder übrig, die für eine Operation in Frage kommen. Aber für diese Kinder ist die OP eine grosse Chance, anfallsfrei zu werden oder deutlich weniger Anfälle zu haben. Wir kooperieren hier eng mit dem Epilepsiezentrum in Bielefeld-Bethel, das sich auf diese Eingriffe spezialisiert hat.

Und wenn auch der chirurgische Weg keine Möglichkeit für das Kind ist?

Panzer: Dann greifen wir auf die so genannte ketogene Diät oder die modifizierte Ätkins-Diät zurück. Das sind Diäten, die einen sehr hohen Fettanteil haben. Der Körper produziert dann in hohem Masse Ketonkörper - ein alternativer Energieträger für das Gehirn. Warum das wirkt, weiss man nicht, aber es funktioniert in vielen Fällen sehr gut. Weitere alternative Methoden sind die Vagusnerv-Stimulation und die Pulsbehandlung mit Cortison. Beides kann Anfälle reduzieren. Aber das Gros der Kinder kommt mit Antikonvulsiva sehr gut hin.

Hauptkategorie: Medizin

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