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Antidepressiva: stumpfe Waffe gegen Allerlei

Mittwoch, 17. August 2016 – Autor:
Die Deutschen schlucken heute siebenmal mehr Antidepressiva als vor 25 Jahren. Trotzdem steigen die Fehltage am Arbeitsplatz wegen Depressionen und anderen Seelenleiden an. Wie geht das zusammen?
Antidepressiva werden als Allzweckwaffe eingesetzt. Doch ihr Nutzen ist vielen Fällen fraglich

Antidepressiva werden als Allzweckwaffe eingesetzt. Doch ihr Nutzen ist vielen Fällen fraglich – Foto: animaflora - Fotolia

Es ist eine Information, die im Arzneiverordnungs-Report 2015 nahezu unterging: der Anstieg von Antidepressiva-Verordnungen. Diese haben sich seit 1991 versiebenfacht - von 197 Millionen Tagesdosen auf 1401 Millionen Tagesdosen im Jahr 2014. Wenn so viel mehr Antidepressiva geschluckt werden, sollte man meinen, die Menschen müssten jetzt frei von Depressionen sein, zumal die Bevölkerung in den letzten 25 Jahren nicht gewachsen ist. Doch psychische Erkrankungen, voran die Depression, machen heute mehr Menschen arbeitsunfähig als je zuvor.

So hat sich laut DAK-Gesundheitseport die Zahl der Fehltage wegen psychischer Erkrankungen seit 1997 nahezu verdreifacht, wobei Depressionen an erster Stelle stehen. Die Techniker Krankenkasse verzeichnet seit dem Jahr 2000  einen Anstieg um 86 Prozent. Allein im Jahr 2013 bedeutete das fast 4,3 Millionen Fehltage aufgrund depressiver Episoden und chronischer Depressionen.

Das legt die Vermutung nahe, dass entweder tatsächlich mehr Menschen an Depressionen leiden, was allerdings schwer nachvollziehbar ist. Oder Antidepressiva helfen gar nicht und chronifizieren das Leiden sogar. Letztere These vertritt der amerikanische Psychiater Rif S. El-Malakh. Der Experte von der Univeristy of Louisville geht davon aus, dass viele Menschen, die zu Beginn positiv auf Medikamente reagieren, bei dauerhafter Einnahme in eine Dauerdepression geraten.

Viele kommen von Antidepressiva nicht mehr los

Auch die Tatsache, dass viele Menschen nicht mehr von Antidepressiva loskommen, könnte eine Erklärung für den Verschreibungsrekord sein. Eine aktuelle Studie aus Neuseeland zeigt, dass drei Viertel der befragten Patienten nach der Langzeitannahme an schweren Entzugssymptomen leiden. Nur einem Teil gelingt der Ausstieg. 

In einer gerade gestarteten Studie um den britischen Wissenschaftler Tony Kendrick von der Universität Southampton wird nun nach Auswegen gesucht. „Das Absetzen von Antidepressiva ist schwierig, weil die Patienten genau die Symptome wieder durchmachen, die ausschlaggebend für die Einnahme der Antidepressiva waren“, beschreibt Kendrick das Abhängigkeitsdilemma.

Schwindel häufige Off-Label-Indikation

Und noch ein weiterer Umstand trägt zu den hohen Verordnungszahlen bei: Antidepressiva werden immer häufiger auch im Off-Label-Use verschrieben. Schwindel, Schmerzen und Fibromyalgie gehören zu den häufigsten Off-Label-Indikationen. Aber auch bei vielen anderen unklaren Symptomen wie Schlafstörungen oder chronischer Müdigkeit werden Antidepressiva ohne entsprechende Zulassung verordnet. Diesen Krankheitsbildern ist gemein, dass Ärzte oft keine körperliche Ursache finden und einen psychischen Auslöser vermuten. Das Rezept wird dann auf Verdacht ausgestellt, ohne richtige Diagnose und evidenzbasiertes Wissen. In Bezug auf den häufigen "Schwindel ohne Befund" etwa gibt es bislang keine einzige Studie, die den Nutzen von Antidepressiva belegen würde.  

© animaflora - Fotolia.com

Hauptkategorien: Medizin , Gesundheitspolitik
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