Das Gesundheitsportal aus der Hauptstadt
Logo Gesundheitsstadt Berlin
Das Gesundheitsportal aus der Hauptstadt

Absetzsymptome bei Antidepressiva: Wie schwer und wie häufig sind sie?

Donnerstag, 28. November 2019 – Autor: Anne Volkmann
Beim Absetzen von Antidepressiva kann es zu sogenannten Absetzsymptomen kommen, die zum Teil schwerwiegend sein können. Ärzte und Patienten sollten sich dieser Risiken bewusst sein. Ein langsames Ausschleichen kann die meisten Symptome jedoch verringern.
Antidepressiva, Absetzsymptome, Absetzsyndrom, Reboundphänomene, Ausschleichen

Ärzte und Patienten wissen immer noch zu wenig über mögliche Absetz- und Reboundphänomene bei Antidepressiva – Foto: ©motortion - stock.adobe.com

Antidepressiva zählen zu den am häufigsten verschriebenen Medikamenten. Werden sie abgesetzt, kann das zu Absetzsymptomen führen, die einem Entzug ähneln. Daher ist es für Ärzte und Patienten wichtig, diese Symptome zu kennen und sich darauf einzustellen. Um herauszufinden, welche Risiken für Absetz- und Reboundphänomene bei verschiedenen Antidepressiva bestehen, haben Forscher um Prof. Andreas Heinz von der Charité in Berlin eine strukturierte Literaturrecherche durchgeführt und diese im Deutschen Ärzteblatt veröffentlicht. Demnach besteht das höchste Risiko für Absetzsymptome bei MAO-Inhibitoren, trizyklischen Antidepressiva, Venlafaxin und Paroxetin.

Schlafstörungen, Schwindel, Übelkeit

Treten beim Absetzen von Antidepressiva unerwünschte Symptome auf, muss zwischen einem Entzugssyndrom, Rebound-Phänomenen und einer Rückkehr der Grunderkrankung unterschieden werden. Diese Unterscheidung ist nicht immer ganz einfach. Dennoch kann an einigen typischen Zeichen ausgemacht werden, ob es sich um ein Entzugssyndrom handelt. Dabei hilft die im Englischen verwendete Eselsbrücke „FINISH“:

  • flu-like symptoms (grippe-ähnliche Symptome)
  • insomnia (Schlafstörungen, intensive Träume, Albträume)
  • nausea (Übelkeit, Erbrechen)
  • imbalance (Gleichgewichtsstörungen, Schwindel)
  • sensory disturbances (Stromschläge, Dysästhesien)
  • hyperarousal (Ängstlichkeit, Agitation, Reizbarkeit)

Ebenfalls charakteristisch für ein Absetzsyndrom sind ein rasches Auftreten innerhalb von drei bis sieben Tagen, das Vorherrschen körperlicher Symptome und eine spontane Rückbildung innerhalb von zwei bis sechs Wochen. Kommt es zu einem Rückfall der Grunderkrankung, setzt dieser in der Regel später ein. Besonders hoch ist das Risiko dafür in den ersten sechs Monaten.

Absetzsymptome in der Regel mild

Die Analyse konnte zeigen, dass Absetzsymptome in der Regel mild sind und nach einer Weile von alleine verschwinden. Schwere oder lange Verläufe treten selten auf. Bei den selektiven Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) ist aufgrund seiner langen Halbwertszeit Fluoxetin besonders unproblematisch beim Absetzen.

Für Sertralin, Citalopram und Escitalopram gilt ein niedriges Risiko. Ein Ausschleichen der Medikation zeigte in Studien keine signifikanten Unterschiede zu einer fortgesetzten Einnahme der Medikation, bei abruptem Absetzen ist ein Risiko vorhanden, aber offenbar gering.

Schwere der Absetzsymptome hängt auch von Wirkstoff ab

Der selektive Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) Venlafaxin weist ein erhöhtes Risiko für Absetzsymptome auf. Hier scheinen auch schwere Verlaufsformen häufiger vorzukommen. Duloxetin besitzt im Vergleich dazu ein geringeres Risiko, das jedoch im Hochdosisbereich (120 mg/d) ansteigt.

Bei den trizyklischen Antidepressiva (TZA) ist die Evidenz eingeschränkt, da nur wenig methodisch hochwertige Studien mit teilweise sehr kleinen Fallzahlen vorliegen. Die ausgewerteten Studien deuteten jedoch auf ein hohes Risiko für das Absetzsyndrom hin. So zeigten sich beim Ausschleichen von Amitriptylin bei 80 Prozent der Patienten Symptome, die jedoch meist mild und selbstlimitierend waren. Imipramin hatte ein mit Paroxetin vergleichbares Risiko. Es gab auch Hinweise auf zum Teil schwere Verläufe.

Zu MAO-Inhibitoren existierten nur Fallberichte und zwei Studien niedriger methodischer Stringenz. Bei ihrer Auswertung zeigte sich allerdings ein besonders hohes Risiko für Absetzsymptome. Auch schwergradige Verläufe bis hin zu Delirien schienen häufiger zu sein.

Reboundphänomene besonders problematisch

Im Gegensatz zum Absetzsyndrom bezeichnet das Reboundphänomen eine erhöhte Anfälligkeit des Organismus nach Absetzen der Medikation. Das bedeutet, dass die Symptome der Grunderkrankung stärker als vor Beginn der Medikation zurückkehren. Wie häufig das Phänomen vorkommt, können die Forscher nicht sagen. Einzelfallberichte und Fallserien weisen auf das Vorkommen anhaltender depressiver Symptome nach Absetzen von Antidepressiva hin, die nur noch schwer zu behandeln waren. Auch von neu aufgetretenen Angst- und Panikstörungen, Schlafstörungen und bipolaren Störungen nach Absetzen wurde berichtet.

Aufklärung und langsames Ausschleichen wichtig

Nach Auffassung der Studientautoren reicht aufgrund der überwiegend milden Verläufe meist eine umfassende Aufklärung des Patienten über die Symptome aus. Bei schweren Verläufen kann das Antidepressivum wieder angesetzt werden, was in der Regel sehr schnell zu einer vollständigen Symptomremission führt.

Empfohlen wird zudem ein Ausschleichen von Antidepressiva über mehr als vier Wochen. Dadurch kann das Risiko für ein Absetzsyndrom zwar nicht vollständig ausgeschlossen, aber dessen Ausmaß verringert werden. Zum Teil werden sogar Mindestzeiträume von drei Monaten empfohlen. Bei einigen SSRI oder Venlafaxin kann auch vorübergehend Fluoxetin als „Rescue“-Substanz anstelle des anderen Antidepressivums angesetzt und nach einigen Wochen abrupt abgesetzt werden.

Nach Ansicht der Autoren sollte in Anbetracht des – wenn auch geringen – Risikos eines schweren und in Einzelfällen womöglich behandlungsresistenten Rezidivs die Einnahme eines Antidepressivums gerade bei leichten bis mittelschweren Depressionen gut abgewogen werden. Grund zur Panikmache besteht dennoch nicht. Denn in der Regel – auch das betonen die Forscher – sind Absetzsymptome mild und zeitlich begrenzt.

Foto: © motortion - stock.adobe.com

Hauptkategorie: Medizin
Lesen Sie weitere Nachrichten zu diesen Themen: Depression , Antidepressiva , Angst , Stress , Suizid

Weitere Nachrichten zum Thema Antidepressiva

08.06.2018

Patienten mit Depressionen haben zurzeit die Wahl zwischen einer Vielzahl verschiedener Antidepressiva, die unterschiedlich wirken und unterschiedliche Nebenwirkungsprofile haben. Eine amerikanische Studie hat nun gezeigt, dass ein EEG bereits im Vorfeld der Therapie Hinweise liefern kann, welches Medikament für einen Patienten am besten geeignet ist.

Aktuelle Nachrichten

Weitere Nachrichten
Die Langzeitfolgen der Corona-Pandemie machen Beschäftigten in Gesundheitsberufen besonders zu schaffen. Das zeigt eine Analyse der AOK-Nordost für Berlin. Eine Berufsgruppe ist sogar doppelt so oft betroffen wie der Durchschnitt der Versicherten.

Die Charité hat am Montag eine stadtweite Kampagne gestartet, um neue Mitarbeitende zu gewinnen. Besonders Pflegekräfte werden umworben, aber auch in Forschung, Lehre und Verwaltung sucht die Universitätsmedizin Verstärkung.

Trotz internationaler Transparenzregeln werden viele klinische Studien nicht veröffentlicht. Wichtige Ergebnisse bleiben somit verborgen. Dem setzt das Berlin Institute of Health (BIH) der Charité nun mit einem öffentlich einsehbaren Dashboard etwas entgegen.
Kliniken
Interviews
Einen ambulanten Pflegedienst in Berlin zu finden, ist schwierig geworden. Personalmangel ist das Hauptproblem. Dabei gäbe es relativ einfache Lösungen, sagt Thomas Meißner vom AnbieterVerband qualitätsorientierter Gesundheitspflegeeinrichtungen (AVG). Im Gespräch mit Gesundheitsstadt Berlin verrät der Pflegeexperte und Chef eines häuslichen Krankenpflegedienstes, wie man Menschen in den Pflegeberuf locken könnte und warum seine Branche noch ganz andere Sorgen hat als die Personalfrage.

Affenpocken verlaufen in der Regel harmlos. Doch nicht immer. Dr. Hartmut Stocker, Chefarzt der Klinik für Infektiologie am St. Joseph Krankenhaus in Berlin Tempelhof, über die häufigsten Komplikationen, die Schutzwirkung der Impfung und den Nutzen von Kondomen.

Zöliakie kann in jedem Lebensalter auftreten und ein buntes Bild an Beschwerden machen. Bislang ist das wirksamste Gegenmittel eine glutenfreie Ernährung. Gesundheitsstadt Berlin hat mit PD Dr. Michael Schumann über die Auslöser und Folgen der Autoimmunerkrankung gesprochen. Der Gastroenterologe von der Charité hat an der aktuellen S2K-Leitinie „Zöliakie“ mitgewirkt und weiß, wodurch sich die Zöliakie von anderen Glutenunverträglichkeiten unterscheidet.
Logo Gesundheitsstadt Berlin