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"Wir müssen die Menge mit der Qualitätsfrage verknüpfen"

Freitag, 3. Mai 2013 – Autor:
Jürgen Klauber, Geschäftsführer des Wissenschaftlichen Instituts der AOK (WIdO), über den Krankenhaus-Report 2013 und die Mengenzuwächse in deutschen Krankenhäusern
Wir müssen die Menge mit der Qualitätsfrage verknüpfen

Jürgen Klauber

Die Fallzahlen in deutschen Krankenhäusern sind laut Krankenhaus-Report in 2011 auf einen Rekordwert von 18,3 Millionen geklettert. Werden die Deutschen immer kränker, Herr Klauber?

Klauber: In der Tat sind die Fallzahlen im Krankenhaus deutlich angestiegen. Und zwar zwischen 2005 und 2011 um sage und schreibe 1,8 Millionen Fälle. Schaut man bis ins Jahr 1991 zurück, ist die Zahl der Krankenhausaufenthalte sogar um fast ein Viertel gestiegen. Aber aus diesen Mengenzuwächsen zu schließen, dass die Deutschen immer kränker werden, wäre die falsche Schlussfolgerung.

Was wäre die richtige Schlussfolgerung?

Klauber: Zweifellos ist die demografische Entwicklung eine der Ursachen. Aber die Alterung der Gesellschaft und die damit verbundene erhöhte Morbidität können nur einen kleinen Teil der Entwicklung erklären. Etwa zwei Drittel der Mengenzuwächse gehen auf andere Ursachen zurück.

Die da wären?

Klauber: Ganz wesentlich sind die Rahmenbedingungen, unter denen  Leistungen im Krankenhaus erbracht werden. Stichworte sind Überkapazitäten, die rückläufige Investitionsfinanzierung der Länder und last but not least das Vergütungssystem nach DRGs.

Sie meinen, die Krankenhäuser suchen händeringend nach Möglichkeiten, ihren wirtschaftlichen Erfolg zu steigern und weiten deshalb die Menge aus?

Klauber: Wie sonst wollen Sie die vorhandenen Überkapazitäten finanzieren? In den Krankenhausplänen der Bundesländer ist eine Bettenauslastung von 85 Prozent vorgesehen. 2011 wurde der Wert bundesweit mit 77,3 Prozent um 7,7 Prozentpunkte unterschritten. Eine andere relevante Anreizbedingung ist darin zu sehen, dass schon lange keine ausreichende Investitionsfinanzierung der Länder mehr stattfindet. Der Finanzierungsanteil liegt mittlerweile unter fünf Prozent der jährlichen Erlöse für Krankenhausleistungen. Der tatsächliche Investitionsbedarf liegt aber bei rund zehn Prozent. Die Finanzierung von notwendigen Investitionen muss somit aus anderen Quellen erfolgen.

Diesen Finanzbedarf können die meisten Kliniken mit ihrer Fallpauschalen-Vergütung nicht ohne weiteres decken?

Klauber: Hier muss man unterscheiden. Was die Entwicklung der DRG-Vergütung je Fall der letzten Jahre betrifft, so lässt sich eine weitgehende Übereinstimmung mit der Entwicklung der Fallkosten für die Krankenhäuser feststellen. Die Vergütung der Betriebskosten, und dies sollen die DRGs leisten, ist also auskömmlich. Müssen aber Überkapazitäten und rückläufige Investitionsmittel der Länder zusätzlich mitfinanziert werden, dann werden die Mittel knapp.

Anders als das frühere Selbstkostendeckungsprinzip lässt das DRG-System den Kliniken kaum Spielraum.

Klauber: Seit das Selbstkostendeckungsprinzip durch das DRG-System abgelöst wurde, hat sich die Effizienz der Leistungserbringung deutlich gesteigert und mehr Transparenz über Kosten und Erlöse für die Akteure gebracht. Diese Transparenz schafft aber auch Anreize, Leistungen zu forcieren, die ökonomisch besonders lohnend sind. Das zeigt auch der Krankenhaus-Report 2013: Krankenhäuser verhalten sich konsequent gewinnmaximierend.

Heißt das, die Fallzahlen steigen bei Fallpauschalen, die besonders viel Gewinn abwerfen?

Klauber: Eine Analyse von Felder et al zeigt, dass Häuser vor allem bei den Fallpauschalen mehr Menge machen, die einen hohen Deckungsbeitrag nahelegen und vergleichsweise geringe Zusatzkosten verursachen. Wer bei diesen Fallpauschalen Menge macht, erzielt c.p. einen höheren Gewinn.

Welche Eingriffe betrifft das?

Klauber: Auffällige Mengensteigerungen zeigen sich in den letzten Jahren insbesondere bei planbaren Eingriffen im Bereich der Muskel-Skelett-Erkrankungen wie etwa Kniegelenksersatz oder Wirbelsäulenchirurgie. Ähnliche Mengenzuwächse sehen wir auch bei Herzkatheter-Untersuchungen und Implantationen von Defibrillatoren. Um Ihnen das an zwei Beispielen zu verdeutlichen: Die Eingriffe an der Wirbelsäule sind pro AOK-Versicherten innerhalb von fünf Jahren zwischen 2005 und 2010 um 130 Prozent gestiegen. Die Implantation bzw. der Wechsel von Defibrillatoren stieg binnen zwei Jahren 2010 gegenüber 2008 um 25 Prozent.

Wenn die Mengentwicklung, wie Sie sagen, nur etwa zu einem Drittel auf die Altersstruktur der Deutschen zurückzuführen ist, müsste ja ein Großteil der genannten Eingriffe überflüssig sein.

Klauber: Es gibt natürlich nicht den Maßstab für die wahre, richtige Behandlungszahl und insofern kann man auch nicht die Zahl vermeidbarer Eingriffe exakt quantifizieren. Tatsache ist aber, dass Deutschland bei den Hüft- und Knieendoprothesen den Spitzenplatz in der OECD-Statistik belegt. Bei der Implantation von Defibrillatoren hat Deutschland die höchste Rate je einer Million Einwohner in Europa und liegt 84 Prozent über dem europäischen Durchschnitt.

Und diesen Spitzenplatz führen Sie hautsächlich auf Fehlanreize im System zurück.

Klauber: Überkapazitäten, ausbleibende Investitionsfinanzierung und das derzeitige Vergütungssystem verleiten dazu, Menge zu machen. Hinzukommt ein fragwürdiges Belohnungssystem. Seien es an Mengen geknüpfte Chefarztboni oder Fangprämien, die an einweisende Ärzte gezahlt werden.

Der Krankenhaus-Report hat auch regionale Unterschiede in Deutschland aufgezeigt. Sehen Sie darin ein Indiz, dass das Angebot die Nachfrage regelt und nicht umgekehrt?

Klauber: Nehmen Sie etwa die Wirbelsäuleneingriffe. In Bayern finden Sie deutlich mehr Wirbelsäulenzentren als in Sachsen. Rechnet man die Alters- und Morbiditätsstruktur der Bevölkerung heraus, kommen Sie in Bayern auf mehr als doppelt so viele Eingriffe an der Wirbelsäule wie in Sachsen. Die Vermutung, dass dies mit der Angebotsstruktur zusammenhängt, drängt sich geradezu auf.

Welches Rezept schlagen Sie gegen überflüssige Behandlungen vor?

Klauber: Das eine Patentrezept gibt es wahrscheinlich nicht. Ich denke, man wird Maßnahmen auf verschiedenen Ebenen brauchen. Auf der Individualebene wäre zu prüfen, inwieweit eine Sicherung der Indikationsstellung durch Zweitmeinung gewährleistet werden kann. In jedem Fall sollte Menge aber mit der Qualitätsfrage verknüpft werden. Es muss ja darum gehen, Mengen an den richtigen Stellen vom Markt zu nehmen, um die Patienten vor schlechter Qualität zu schützen.

Wie soll das gehen?

Klauber: Neben einer qualitätsorientierten Krankenhausplanung dürfte hierfür zentral sein, dass auf der Vertragsebene der Kontrahierungszwang gelockert wird. Krankenkassen sollten nicht mit jeder Klinik eine Vertragsbeziehung eingehen müssen, wenn deren Qualität deutlich unterdurchschnittlich ist. Dies ist auch mit Blick auf die vielen Kliniken, die permanent gute Arbeit machen, geboten.

Das DRG-System setzt ja nicht unbedingt Qualitätsanreize.

Klauber: Das ist richtig, aber es setzt auch keine Anreize zu schlechterer Qualität. Die bisherigen Ergebnisse der DRG-Begleitforschung liefern keinen Anhaltspunkt, dass sich in Summe die Qualität durch die DRG-Einführung verschlechtert hat. Nichtsdestotrotz ist natürlich auch das DRG-System hinsichtlich seiner konkreten Ausgestaltung in Bezug auf Mengenanreize zu überprüfen, was ja zurzeit angegangen wird.

In diesem Zusammenhang wird auch diskutiert, bessere Qualität über das Vergütungssystem zu belohnen bzw. schlechtere mit einem Preisabschlag zu versehen. Was halten Sie davon?

Klauber: Dieser Gedanke liegt nahe, ist aber nicht unumstritten. Letztlich würde dies doch bedeuten, dass Versicherte weiterhin auch schlechte Qualität bekommen und man müsste sich die Frage gefallen lassen, ob schlechte Qualität akzeptabel ist, wenn der Preis entsprechend niedrig ist. Meines Erachtens sollte das Ziel sein, Versicherte vor schlechter Versorgung zu schützen, eben durch Lockerung des Kontrahierungszwangs. Wenn Krankenkassen qualitätsorientiert Einzelverträge schließen können, bestünde zugleich die Möglichkeit, die frei werdenden Mengen und Budgetanteile den Anbietern guter Qualität zu Gute kommen zu lassen.

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