Paritätischer Wohlfahrtsverband: „Wir haben nicht mehr genug Zeit für den einzelnen Pflegebedürftigen”
„Die Rahmenbedingungen in der ambulanten Pflege sind an der Grenze des Zumutbaren“, mahnt Werner Hesse, Geschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, anlässlich der Präsentation der Untersuchung seines Hauses zur Unterfinanzierung der ambulanten Pflege im Bereich der Pflegeversicherung. „Dass das gesamte System bis heute nicht kollabiert ist, ist den Menschen zu verdanken, die vor Ort mit hohem Engagement an der Grenze zur Selbstausbeutung agieren“, ergänzt Hesse.
Aufgefangen habe man die bestehende Finanzierungslücke durch eine ganz erhebliche Arbeitsverdichtung und schlechter werdende Arbeitsbedingungen. Auf der Strecke geblieben seien die Löhne für die Beschäftigten und die Zeit für Pflege und Zuwendung, so Hesse weiter: Denn angesichts der miserablen Vergütungen sahen sich die Pflegedienste gezwungen, den Kostendruck an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter weiterzureichen, um der Insolvenz zu entgehen und ihr Angebot überhaupt aufrecht erhalten zu können. Hesse macht deutlich: „Das alles hat zur Unattraktivität des Pflegeberufes massiv beigetragen. Die Pflegenden haben heute nicht mehr genug Zeit für den einzelnen Pflegebedürftigen“.
Durchschnittich sind Vergütungen ambulanter Pflegedienste um 48,2 % zu niedrig
Als einen der wesentlichen Kostentreiber macht Hesse neben der Zahlung von angemessenen Gehältern und steigenden Betriebskosten insbesondere neue Anforderungen an die Qualifikation des Personals und die Dokumentation der Leistungen aus. Allein der Bürokratieaufwand sei seit 1998 um bis zu 24 Prozent gestiegen. Die Kosten der Pflegedienste haben sich im gleichen Zeitraum im Bundesdurchschnitt um 70,4 Prozent erhöht. Demgegenüber hätten die Pflegekassen die Vergütungen für professionelle Pflege nur um 15 Prozent gesteigert. Im Schnitt liegen die Vergütungen daher heute um 48,2 Prozent zu niedrig, geht aus dem Gutachten hervor.
Große Morgentoilette muss anstatt in 45 jetzt in 30 Minuten erledigt werden
In der Praxis bedeute die chronische Unterfinanzierung eine „Pflege im Minutentakt“, die für die Pflegekräfte wie auch die Pflegebedürftigen nach dem Prinzip „rein in den Haushalt und schnell wieder raus“ eine Zumutung sei. Denn um angesichts der aktuellen Vergütungssituation keine Verluste zu machen, müsse ein Pflegedienst heute beispielsweise die sogenannte „große Morgentoilette“ mit der Unterstützung beim Verlassen des Bettes, dem An- und Auskleiden, dem Duschen und Frisieren, in weniger als einer halben Stunde erledigen. Zu Beginn der Pflegeversicherung waren hierfür 45 Minuten vereinbart.
Für die Reinigung der Wohnung dürfe eine Pflegekraft heute maximal 6 Minuten aufwenden, für die Hilfe beim Essen und Trinken nur noch eine viertel Stunde. Im Schnitt bleibt somit heute rund 30 Prozent weniger Zeit – bei weitgehend gleicher Vergütung.
Paritätischer will eine Bezahlung der ambulanten Pflege nach Zeit, statt nach Pauschalen und Modulen
Um den Anreiz zur Verknappung von Einsatzzeiten zu beseitigen, fordert der Wohlfahrtsverband die Finanzierung der ambulanten Pflege künftig komplett auf eine Abrechnung gemäß der tatsächlich benötigten Zeit für die Leistungen umzustellen. Derzeit wird weitgehend mit Pauschalen und Modulen abgerechnet. Hesse kommt dabei auf die Menschenwürde zu sprechen und sagt: „Die soziale Pflegeversicherung hat sicherzustellen, dass jeder Mensch eine Pflege erhält, die der Würde des Menschen entspricht“.
Weiter fordert der Paritätische Gesamtverband höhere Vergütungen von rund einer Milliarde Euro für die bundesweit rund 12.300 ambulanten Pflegedienste. Damit könnten die Pflegevergütungen um mehr als 30 Prozent angehoben werden. Damit diese nicht auf die Pflegebedürftigen abgewälzt werden, seien höhere Leistungen in der Pflegeversicherung notwendig. Anstatt einen Vorsorgefonds in der Pflege einzuführen, solle das Geld in die Aufwertung der Tätigkeit von Pflegediensten investiert werden, so Hesse abschließend.
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