Initiative „Klug entscheiden“: Onkologen legen zehn Empfehlungen vor
Muss die Chemotherapie kurz vor dem Lebensende wirklich sein? Wäre nicht eine palliativmedizinische Begleitung für den Patienten besser? Eineinhalb Jahre nach dem Start der Kampagne „Klug entscheiden“ hat die Deutsche Gesellschaft für Hämatologie und Onkologie (DGHO) nun erstmals fünf Positiv- und fünf Negativempfehlungen vorgelegt. Die Empfehlungen sollen helfen, eine Über- und Unterversorgung in der Krebsmedizin zu vermeiden. Es ist zum Beispiel bekannt, dass am Lebensende zu viel und zu intensiv therapiert wird. Gleichzeitig fehlt aber vielen Patienten der Zugang zur Psychoonkologie. Beides ist Ausdruck einer verfehlten Versorgung.
Bewusstsein für Über- und Unterversorgung schaffen
„Wir wollen nicht rationieren, sondern klarstellen, welche Maßnahmen tatsächlich nutzbringend sind und welche trotz nachweisbarmen Nutzen noch zu selten durchgeführt werden“, erläuterte DGHO-Vorstand Prof. Michael Hallek im Rahmen einer Pressekonferenz am Mittwoch in Berlin. Dabei ginge es nicht um den erhobenen Zeigefinger, sondern darum, "ein Bewusstsein für Über- und Unterversorgung zu schaffen."
Die Empfehlungen sind auf Basis einer online-Umfrage unter den DGHO-Mitgliedern entstanden. Dabei zeigte sich zum Beispiel, dass die Mehrheit der Ärzte zugibt, regelmäßig aus ökonomischem Druck zu entscheiden. Auch die Angst, etwas zu übersehen oder falsch zu machen, bringt Ärzte dazu, nicht immer nach dem Stand des Wissens zu handeln. Zudem entwickelt sich gerade in der Onkologie das Wissen so rasant weiter, dass viele ihre Mühe haben, damit Schritt zu halten.
Plädoyer für die sprechende Medizin
„Umso wichtiger sind klare evidenzbasierte Handlungsempfehlungen, die Ärzten helfen, gut begründete und rationale Entscheidungen zu treffen“, so Hallek, „wobei wir die partizipative Entscheidungsfindung ausdrücklich betonen.“ In ihrem Papier spricht sich die DGHO klar für mehr sprechende Medizin aus und empfiehlt zum Beispiel, eine „Therapiestrategie unter Berücksichtigung der individuellen Präferenzen.“
Gespräche mit den Patienten und Angehörigen kämen oft zu kurz, dagegen sei es oft einfacher zum Rezeptblock zu greifen, beschrieben die Experten eines der Probleme der Fehlversorgung. Dabei stehen gerade Ärzte in der Onkologie vor besonders schwierigen Entscheidungen. „Einem Patienten sagen zu müssen, dass er austherapiert ist, fällt keinem Arzt leicht“, betonte DGHO-Vorstandsmitglied Prof. Diana Lüftner. „Sie müssen ihm und seiner Familie an diesem Punkt ja jede Hoffnung nehmen.“ Die Oberärztin der Charité bietet ihren Patienten in dieser Situation deshalb wiederholte Gespräche an und stellt gemeinsam mit dem Patienten von vornherein klare Regeln auf. „Die Absprache, dass wir gerne eine Therapie ausprobieren können, aber sie auch abbrechen, wenn wir sehen, dass es nichts bringt, können die allermeisten gut akzeptieren“, erklärte Lüftner.
Evidenzbasiert Empfehlungen kürzer als Leitlinien
Praktisch alles, was in den zehn Empfehlungen der DGHO steht, findet sich auch in den Leitlinien wider. Bloß werden diese nicht immer gelesen. Eine Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) hatte gezeigt, dass Leitlinien als zu lang und zu kompliziert empfunden werden und deshalb oft ignoriert werden. Danach gaben 70 Prozent der Befragten an mehrmals pro Woche mit Überversorgung konfrontiert zu sein, und rund die Hälfte hat schon diagnostische oder therapeutische Maßnahmen wider besseres Wissens weggelassen.
„Unsere Empfehlungen haben den Vorteil, dass sie kürzer sind als Leitlinien, die mitunter 300 Seiten umfassen“, sagte Hallek. Außerdem seien sie schneller.
Was die DGHO empfiehlt und was nicht
In dem nun vorgelegten Zehn-Punkte-Plan finden Ärzte kurze Statements zu identifizierten Problemfeldern. Ein Früher Zugang zur palliativmedizinischen Versorgung, zur Psychoonkologie und eine Tumorschmerzbehandlung nach WHO-Schema sind zum Beispiel Positiv-Empfehlungen. Weiter wird die molekulargenetische Diagnostik bei allen Patienten empfohlen, bei denen dies auch eine therapeutische Konsequenz hat. Von einer zielgerichteten Therapie, ohne dass ein entsprechender Biomarker nachgewiesen wurde, rät die DGHO dagegen ausdrücklich ab. Ebenso negativ wird die CT-Untersuchung für Lymphompatienten in der Nachsorge bewertet, wenn keine klinischen Symptome vorliegen. Denn für den Nutzen der Untersuchung gibt es den Autoren zufolge keine wissenschaftliche Evidenz.
Bewusstsein muss in die Köpfe
Jetzt gehe es vor allem darum, die Empfehlungen zur Vermeidung von Unter- und Überversorgung im Behandlungsalltag zu implementieren, erklärte Prof. Dr. Carsten Bokemeyer von der DGHO. Das Bewusstsein, ärztliches Handeln immer wieder zu hinterfragen, müsse in die Köpfe. „Hierzu leistet die Kampagne „Klug entscheiden“ einen wesentlichen Beitrag“, so Bokemeyer.
Die Kampagne „Klug entscheiden“ wurde von der Deutschen Gesellschaft für Innere Medizin (DGIM) im Februar 2015 ins Leben gerufen. Dutzende Fachgesellschaften haben sich angeschlossen. Die fünf Positiv- und fünf Negativempfehlungen der DGHO sind am Freitag im Deutschen Ärzteblatt erschienen.
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