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Demografiekongress 2015: Die Gesellschaft bekommt ein neues Gesicht

Montag, 7. September 2015 – Autor:
Die wachsende Zahl älterer Menschen wird der Gesellschaft ein neues Gesicht geben. Kein Grund zur Panik, meinten Experten auf dem Demografiekongress am 3. und 4. September in Berlin. Die Menschen bleiben auch immer länger fit.
Altmaier Peter

Bundesminister Peter Altmaier, MdB, erläuterte zum Kongressauftakt die Demografiestrategie der Bundesregierung.

Die Zahlen sind eindeutig: Der Anteil der über 60-jährigen in Deutschland hat sich seit 1950 verdoppelt. Heute gehört jeder vierte Bundesbürger dieser Altersgruppe an, 2025 wird es schon jeder dritte sein. Besonders krass ist der Zuwachs bei den über 90-jährigen: Erreichten im Jahr 2000 noch eine halbe Million Menschen dieses hohe Alter, werden es im Jahr 2020 doppelt so viele sein. Wird Deutschland also von einem „Silbertsunami“ überrollt? Nein, meinten Experten aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft auf dem Demografiekongress 2015 am 3. und 4. September in Berlin. Der demografische Wandel sei keine unvorhersehbare Naturkatastrophe, sondern eine seit langem bekannte Entwicklung. Die Gesellschaft werde allerdings ein neues Gesicht bekommen. „Wir alle sind gefordert, diese Veränderung so zu gestalten, dass aus einer großen Herausforderung eine Chance für die Gesellschaft wird“, erklärte Kongresspräsident Ulf Fink, Senator a.D. vor rund 800 Teilnehmern in Berlin. „Und genau deshalb veranstalten wir nun schon zum sechsten Mal diesen Zukunftskongress.“

Mehr gesunde Lebensjahre

Zunächst ein paar ermutigende Fakten aus der Wissenschaft: Die heute geborene Generation hat rund 30 Jahre mehr als die ihrer Ur-Ur-Großeltern vor 100 Jahren. Die gewonnene Lebenszeit bedeutet aber keineswegs ein langes Leben in Krankheit und Gebrechlichkeit, sondern ein Zugewinn an zusätzlichen gesunden Lebensjahren, wie Experten in Berlin bestätigten. „Die Menschen leben heute immer länger in Gesundheit und der kognitive Abbau verlagert sich ins hohe Lebensalter“, erklärte die Altersmedizinerin Prof. Ursula Müller-Werdan von der Berliner Charité. „Deshalb halte ich die Angst vor einer Demenzwelle auch für unbegründet.“ Den 90-Jährigen gebe es nicht, zum Teil hätten sogar die über 100-Jährigen noch enorme Reserven, so die Lehrstuhlinhaberin für Geriatrie. Dass sich das biologische Alter immer weiter nach hinten verschiebt, zeigt unter anderem die Heidelberger 100-Jährigen-Studie. Demnach sind die heute 100-Jährigen geistig und körperlich so fit wie die 90-Jährigen vor zehn Jahren, also im Schnitt zehn Jahre jünger.

„Das Lebensalter sagt immer weniger über die Fähigkeiten des Einzelnen aus“, bekräftigte auch Prof. Manfred Gogol, Ärztlicher Direktor der Klinik für Geriatrie in Coppenbrügge. Selbst Menschen mit chronischen Erkrankungen und starkem Risikoverhalten lebten heute länger – siehe Alt-Kanzler Helmut Schmidt, wobei dies nicht allein auf den medizinischen Fortschritt und die genetische Ausstattung zurückzuführen sei. „Wir wissen heute, dass die soziale Einbindung der wichtigste Faktor für ein langes Leben und die geistige Gesundheit ist“, sagte Gogol. Gerade für Männer sei der Eintritt ins Rentenalter oft der direkte Weg in die soziale Isolation – mit schweren gesundheitlichen Folgen wie die hohe Suizidrate unter älteren Männern zeige. „Die Frage ist, wie uns eine Partizipation der älteren Generation gelingt und wie die wir die Potenziale der Menschen nutzen können.“

Vom Engagement der Älteren werden alle profitieren

Damit griff der Altersmediziner eine der Kernfragen des Kongresses auf, denen im Wesentlichen drei Antworten folgten: Flexible Rentenaltersgrenzen und lebenslange Weiterbildungsmöglichkeiten schaffen – schließlich würden Fachkräfte dringender denn je gebraucht und warum sollte jemand, der gerne noch arbeiten möchte, das nicht auch dürfen? Weiter wurden die Förderung des Ehrenamts und ein Rechtsanspruch von Senioren auf ein freiwilliges soziales Jahr gefordert, was aus Expertensicht eine win-win-Situation für alle bedeutet. Und last but not least komme man um eine barrierefreie Umwelt- und Wohnraumgestaltung nicht drum herum. Die sei vor allem eine Aufgabe der Städte und Kommunen, hieß es, und unverzichtbar für soziale Teilhabe und Selbstständigkeit im Alter.

Flexible Lebensarbeitszeit statt drei Jahrzehnte Ruhestand

„Ältere Menschen werden in Zukunft eine aktive Rolle in der Gesellschaft übernehmen, weil sie das können und weil sie das wollen“, war sich die ehemalige Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth sicher. Davon werde die ganze Gesellschaft profitieren, die Alten wie die Jungen. „Wir können einem Menschen nicht den Ruhestand aufzwingen und gleichzeitig darüber jammern, dass er der Rentenkasse auf der Tasche liegt“, erklärte die heute 78-Jährige. Auch Ursula Lehr, Bundesministerin a.D. und Vorsitzende der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen (BAGSO), warb für eine flexiblere ergo längere Lebensarbeitszeit: „Im Schnitt lebt die heutige Generation 25 bis 30 Jahre im Ruhestand – das geht auf Dauer nicht“, sagte sie.

Bislang hat die Politik dem wenig entgegenzusetzen. Statt einer flexiblen Rentenaltersgrenze wurde ein Rentenpaket eingeführt, das bis 2030 rund 160 Milliarden Euro an Mehrkosten bedeutet. Für den Sprecher der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen Wolfgang Gründinger ein Beleg dafür, dass die Gesellschaft die Zukunft vergisst. „Wir leben von der Substanz und auf Kosten künftiger Generationen“, kritisierte der 31-jährige. Die Politik werde von den Alten für die Alten gemacht. Neben dem umstrittenen Rentenpaket nannte er die Staatsverschuldung und die Vernachlässigung der analogen und digitalen Infrastruktur als Beweis für fehlende Nachhaltigkeit. Deutschland sei zum Beispiel OECD-weit Schlusslicht bei der Investition in Kita-Plätze sowie bei der digitalen Revolution. „Ich plädiere für eine Solidarität der Generationen – wir Jungen schaffen das sonst nicht“, so Gründinger.

Einen „Krieg der Generationen“ sehen Wissenschaftler nicht

Ursula Lehr griff den Appell wohlwollend auf, erinnerte aber an die Ursachen des demografischen Wandels. „Die Jungen bekommen keine Kinder mehr, das ist das eigentliche Problem“, sagte sie mit Blick auf den Fakt, dass heute jede dritte Frau im gebärfähigen Alter kinderlos bleibt. 1950 war es nur jede zehnte. Die Psychologin und BAGSO-Vorsitzende widersprach dem Vorwurf, die Jungen würden von den Alten ausgebeutet, ebenso wie Prof. Axel Börsch-Supan, Direktor des Munich Center for the Economics of Aging am Max-Planck-Institut für Sozialpolitik. „Wir erleben einen starken Austausch zwischen den Generationen“, sagte er. Von einem Krieg der Generationen könne keine Rede sein. Vorstellungen, dass die Alten den Jungen die Arbeitsplätze wegnähmen oder besonders von Altersarmut betroffen wären, seien schlichtweg falsch. So seien 49 Prozent der Armutsgefährdeten im Land Alleinerziehende und Menschen mit Migrationshintergrund, aber nur 15 Prozent älter als 65. Dennoch sieht er auch Schwächen: „Wir hatten bislang eine sehr ausgeglichene Politik, diese Balance ist derzeit in Gefahr“, warnte der Wirtschaftswissenschaftler.

Der Vorsitzende der Jungen Gruppe der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Steffen Bilger verwies dagegen auf den Schuldenschnitt und die geringe Jugendarbeitslosigkeit unter der jetzigen Regierung; der Chef des Bundeskanzleramts Peter Altmaier (CDU) auf die soeben verabschiedete erweiterte Demografiestrategie, mit der die Bundesregierung sehr wohl der Zukunft des Landes Rechnung trage. Aus seiner Sicht ist Deutschland durchaus wettbewerbsfähig in Sachen digitaler Revolution, die künftig auch das eine oder andere Problem älterer Menschen lösen könne. „Das selbstfahrende Auto oder der Pflegeroboter sind Dinge, die älteren Menschen ein selbstständiges Leben ermöglichen können“, sagte der Bundesminister für besondere Aufgaben. Er persönlich würde jedenfalls lieber einen Pflegeroboter herumkommandieren, als in ein Pflegeheim zu ziehen, meinte er schmunzelnd.

Flüchtlingspolitik nicht mit Demografie vermischen

Zur aktuellen Flüchtlingskrise sagte Altmaier, die Bedeutung für den demografischen Wandel sei derzeit noch nicht absehbar. Man dürfe jetzt nicht beides vermischen. Dem pflichtete auch der Altersökonom Axel Börsch-Supan bei. In der Flüchtlingspolitik sollte es jetzt vorrangig darum gehen, in Bildung und zu investieren, sagte er. „Die Demografie müssen wir selber lösen.“

Über den Demografiekongress

Der Demografiekongress möchte den demografischen Wandel aktiv mitgestalten und bringt darum die wichtigen Entscheider aus Politik, Wirtschaft und Wissenschaft zusammen. Am 3. und 4. September 2015 wurden in mehr als 130 Vorträgen und Diskussionsrunden vor rund 800 Teilnehmern konkrete Handlungsfelder aufgezeigt sowie zum Teil beeindruckende Gestaltunglösungen vorgestellt. Damit der Wandel erfolgreich gelingen kann, wird es auch nächstes Jahr einen Demografiekongress geben: am 1. und 2. September 2016 in Berlin. 

Foto: Carsten Rauchhaus

Carsten Rauchhaus 

Hauptkategorien: Berlin , Demografischer Wandel

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