Der zunehmende Zeitmangel sei ein zentrales Problem des deutschen Gesundheitssystems und belaste das Arzt-Patienten-Verhältnis – das monieren immer mehr Experten. Denn mittlerweile sind Krankenhausstrukturen oft vor allem darauf ausgelegt, größtmögliche Erlöse zu erzielen; zudem reduzieren viele Kliniken die stationäre Verweildauer auf ein Minimum und sparen am Personal. Ein weiteres großes Problem: Die Zeit, die Ärzte mit Patientengesprächen verbringen, schlägt sich nicht in der Vergütung nieder. Nun warnt die Deutsche Gesellschaft für Chirurgie (DGCH), dass sich der zunehmende Zeitdruck auch auf die Qualität der medizinischen Versorgung niederschlagen wird.
Immer weniger Zeit für Patientengespräche
Die Leistungsverdichtung in der operativen Medizin hat nach Ansicht der DGCH bedenkliche Ausmaße erreicht. „Darunter leiden Patienten, aber auch Mitarbeiter“, warnt Professor Tim Pohlemann, Präsident der DGCH und Direktor der Klinik für Unfall-, Hand- und Wiederherstellungschirurgie am Universitätsklinikum des Saarlandes in Homburg/Saar. Die Situation werde in vielen Kliniken langsam besorgniserregend, so der Experte.
Nicht nur die Gespräche vor einer Operation werden immer kürzer. Auch eine bedarfsgerechte Pflege der Patienten in der frühen Phase direkt nach der Operation ist auf chirurgischen Normalstationen nach Angaben der DGCH kaum noch zu leisten. Und das spüren auch die Patienten. „Die Pflegekräfte haben kaum noch Zeit, nach dem Eingriff mit dem Patienten ausführlich zu sprechen“, so Pohlemann. Viele frisch Operierte müssten oft zu lange warten, bis das überlastete Personal kommen und helfen kann. „Auch gibt es kaum noch Möglichkeiten, älteren Patienten, die durch die technische Überwachung unruhig werden, eine Sitzwache zu stellen“, erläutert der DGCH-Präsident.
Aber auch die Klinikärzte arbeiten am Limit. Ihre Operationszeiten sind eng getaktet, und alle 24 Stunden findet aufgrund des Arbeitszeitgesetzes ein Schichtwechsel statt. Eine der Folgen: Die Aufklärung des Patienten erfolgt zwar immer formal korrekt einen Tag vor dem Eingriff, häufig jedoch durch einen Arzt, der bei der Operation gar nicht anwesend ist. „Das stellt eine enorme Belastung für den Patienten dar – er hat vor einer Operation meist Angst und will mit demjenigen sprechen, der ihn operiert“, betont Pohlemann. Damit fehle nicht selten Zeit für den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses, das in der Chirurgie von zentraler Bedeutung sei.
Kritik an zunehmender Bürokratie
Faktoren, die jenseits der klinischen Kerntätigkeit zusätzlich ärztliche Ressourcen binden, verschärfen den Mangel weiter. „Dazu zählen rigide Controlling-Vorgaben und aufwendige Dokumentationsprozesse, die aus unserer Sicht zu keiner erkennbaren Qualitätssteigerung führen“, berichtet Pohlemann. „Chirurgen brauchen mehr Freiheiten“, ist sich der DGCH-Präsident sicher. Sie müssten in Abläufe und Prozesse eingreifen und sie nach medizinischen Erfordernissen gestalten können. „Diese Voraussetzungen gilt es zu schaffen – im Zweifel mit weniger, dafür aber gut ausgestatteten Kliniken.“
Auch der Vergleich mit anderen Ländern gibt zu denken. „Bei den für den einzelnen Patienten zur Verfügung stehenden Pflegekapazitäten fällt Deutschland im internationalen Vergleich zunehmend zurück und unterscheidet sich bereits signifikant von skandinavischen Ländern“, berichtet Pohlemann. Während sich in Skandinavien auf einer Normalstation eine Pflegekraft um drei Patienten kümmert, beträgt dieses Verhältnis in Deutschland eins zu zehn.
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