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Älter und vielleicht glücklicher

Donnerstag, 1. September 2016 – Autor:
Der demografische Wandel verändert das Land. Ob zum Guten oder Schlechten, liegt in unsere Hand.
Die Generation Silber legt zahlenmäßig zu. Was das für Wohnen, Leben und Arbeiten bedeutet, nimmt der Demografiekongress in Berlin am 1. und 2. September 2016 unter die Lupe

Die Generation Silber legt zahlenmäßig zu. Was das für Wohnen, Leben und Arbeiten bedeutet, nimmt der Demografiekongress in Berlin am 1. und 2. September 2016 unter die Lupe

Optimisten sehen im demografischen Wandel eine Chance: für neue Produkte und Dienstleistungen, innovative Wohnformen und, ja, sogar für ein solidarischeres Miteinander. Pessimisten schauen dagegen auf einen Haufen Probleme: die bislang ungelöste Sicherung der Sozialsysteme, den Fachkräftemangel, das fehlende Pflegepersonal, die drohende Altersarmut. Wahrscheinlich liegt die Wahrheit, wie so oft, in der Mitte. Denn eines steht fest: Die Altersentwicklung ist vorhersehbar und sie kommt langsam. Und das ermöglicht, Maßnahmen zu ergreifen, um aus einer „großen Herausforderung, eine Chance zu machen“, wie Ulf Fink, der Initiator des Demografiekongresses, gerne betont.

Chancen ergeben sich überall dort, wo das Thema angepackt wird. In Städten und Gemeinden ist bereits einiges in Bewegung geraten, und auch die Bundesregierung hat mit ihrer Demografiestrategie reagiert, wobei es hierbei vor allem um die Sicherung von Wohlstand und Wirtschaftswachstum geht.

Experten rechnen mit stetigem Wirtschaftswachstum

Japan wird gerne als Beispiel zitiert. Nicht nur wegen seiner Pflegeroboter, sondern auch weil in dem Land mit der ältesten Bevölkerung der Welt die Wirtschaft weiter wächst. Bloß langsamer als früher. Eine ähnliche Entwicklung sagt das Prüfungs- und Beratungsunternehmen Deloitte auch für das alternde Deutschland voraus. Chefökonom Dr. Alexander Börsch rechnet bis 2030 mit einem jährlichen Wirtschaftswachstum von etwa 1,3 Prozent. Was danach kommt, hängt dem Experten zufolge vor allem von der Erwerbsquote und der Innovationskraft ab. „Das Produktivitätswachstum wird die entscheidende Stellschraube sein“, sagt Börsch. Wie sich dieses allerdings in 30, 40 Jahren entwickeln werde, sei derzeit schwer vorhersehbar. Zu unsicher seien Einflussfaktoren wie Renteneintrittsalter, Fachkräftemarkt oder vor allem technologische Entwicklungen. An einen dramatischen Einbruch der Wirtschaft, glaubt er nicht. „Das Geld liegt bei den älteren, davon werden einige Sektoren deutlich profitieren.“

Es wird zu Segmentverschiebungen kommen 

Gibt es also doch einen Demografiemarkt, den Optimisten so gerne heraufbeschwören? Das Bundeswirtschaftsministerium ist überzeugt, dass sich Märkte, die demografische Entwicklungen in konkrete Produkte umsetzen können, dynamischer entwickeln werden, als solche, die etablierte Produkte anbieten. Demnach wird es zu Segmentverschiebungen innerhalb bestehender Industrien kommen.

Am leichtesten tun sich offenkundig Märkte, die ohnehin in den Bereichen Gesundheit und Pflege unterwegs sind. Auffallend oft lächeln einem heute ergraute Senioren zu den besten Sendezeiten entgegen – glücklich, weil ihnen der Vitamincocktail neue Lebenskraft gegeben oder das Wärmepflaster den Schulterschmerz genommen hat. Ein Indiz dafür, dass Werbung und Industrie längst begriffen haben, mit welcher Zielgruppe ein Geschäft zu machen ist.

Auch der Markt für Hausnotruf-Systeme boomt, während sich die Installateurbranche über eine wachsende Nachfrage nach barrierefreien Bädern erfreut. Beide Maßnahmen werden allerdings bei anerkannter Pflegestufe von den Pflegekassen finanziell unterstützt.

Derzeit spielt der AAL-Markt praktisch keine Rolle 

Andere Produkte des sogenannten AAL-Markts (Ambient Assisted Living) tun sich noch deutlich schwerer. Hierunter fallen Produkte, die alten Menschen mehr Sicherheit geben und sie unabhängiger von Pflegepersonen machen. Beispiele sind die Abschaltautomatik für Geräte oder die automatische Lichtsteuerung. Komplexere Systeme wie die Sturzerkennung oder die Assistenztechnik, die den Blutdruck misst und die Werte automatisch an eine elektronische Patientenakte übermittelt, sind oft an Dienstleistungen gekoppelt. Doch Angebot und Nachfrage klaffen hier weit auseinander. Einzelne Anwendungen würden zwar punktuell nachgefragt, meint Hans-Peter Bursig, Geschäftsführer des Fachverbands Elektromedizinische Technik. Eine echte Nachfrage gebe es derzeit aber nicht. „In den Haushalten ist AAL aus unserer Sicht noch nicht angekommen“, so Bursig.

Dabei wird dem AAL-Markt ein unglaubliches Potenzial nachgesagt. Das Institut für Gerontologie der Universität Vechta hat 2012 in einer Studie errechnet, dass sich das Marktvolumen in Deutschland im günstigsten Fall auf 87 Milliarden Euro beläuft. Berücksichtigt man Zahlungsfähigkeit und -bereitschaft gelten danach immer noch bis zu fünf Milliarden als erzielbar. Bis dorthin ist noch viel Luft nach oben. „Die Entwicklung des Marktes wird im Wesentlichen davon abhängen, ob die Wohnungswirtschaft das Thema aufgreift und ob über die Sozialsysteme zumindest eine Co-Finanzierung geleistet werden wird“, meint Experte Bursig.

Bei über 50-Jährigen sinkt das gefühlte Alter

In vielen anderen Bereichen lassen sich Produkte jedoch kaum nach Zielgruppen trennen. Großflächige Smartphones etwa finden sich heute in den Händen von Jung und Alt. Und der Lane-Assist im Auto ist kein Stigma der Senioren, sondern gibt allen Generationen mehr Sicherheit am Steuer. Das macht es schwierig, den Demografiemarkt sauber von anderen Märkten abzugrenzen. „Ältere Generationen orientieren sich in ihrem Konsumstil zunehmend an den jüngeren Generationen“, weiß Prof. Susanne Wigger-Spintig, die an der Hochschule München Konsumgüter- und Marktforschung lehrt. Das gefühlte Alter sinke vor allem bei Personen über 50. „Allgemein werden Branchen, die auf altersbedingte Interessen und Präferenzen eingehen, vom Wandel profitieren“, sagt sie. Eine konkrete Auswahl einzelner Branchen lasse sich heute nicht mehr treffen.

Unstrittig ist, dass etliche Produkte das Leben im Alter erleichtern können. Nach dem Motto, es wird uns gar nichts anderes übrig bleiben, als mit neuen Ideen auf den demografischen Wandel zu reagieren, argumentiert Dr. Matthias Warmuth, Geschäftsführer der BBT-Gruppe, einem christlichen Träger von Krankenhäusern, Seniorendiensten und Rehabilitationseinrichtungen. Damit meint er einerseits die vielen kleinen technischen Hilfen für den Alltag, die zum Beispiel auch die Pflege entlasten können. Aber auch neue Gesellschaftskonzepte. „Es ist immer weniger denkbar, dass die älteren Menschen alle in Heimen betreut werden“, sagt er. Dazu reichten die Kapazitäten nicht.

Stationäre Einrichtungen hält er für notwendig bei schwerer Pflegbedürftigkeit oder kurz vor dem Lebensende. Für die vielen gesunden Lebensjahre, die ältere Menschen heute statistisch hinzugewinnen, müssten andere Lösungen gefunden werden: mehr Ehrenamtliche, Quartierslösungen, Mehrgenerationenhäuser, Betreutes Wohnen, all das.

Es wird völlig neue Lebenskonzepte geben

„Kommunen und die Wohnungswirtschaft, aber auch die Anbieter von Pflegedienstleistungen tun heute schon viel, um alte Menschen in ihrem gewohnten Wohnumfeld zu halten“, sagt Warmuth, und das sei auch zwingend notwendig. „Wir brauchen diese Strukturen, weil es das klassische Familienmodell gerade in Großstädten immer seltener gibt.“ Die Konzepte des vernetzten Miteinanders unterstützten Menschen beim Erhalt ihrer Selbständigkeit und seien obendrein ein gutes Rezept gegen Einsamkeit, meint der Jurist und Gesundheitsökonom. Einige Modellprojekte binden inzwischen auch technische Assistenzsysteme ein, so dass sich selbst Menschen mit Demenz im Viertel frei bewegen können.

Noch handelt es sich in den meisten Fällen um Pilotprojekte. Doch deren Zahl wird immer mehr und viele sind darauf angelegt, Nachahmer zu finden. Mag sein, dass die Vorstellung, mal in einem betreuten Quartier zu leben, noch ziemlich realitätsfern klingt. Genauso absurd mag die Vorstellung sein, dass Oma und Opa das Apple Care-Kit nutzen, um mit ihren Ärzten und Pflegediensten kommunizieren. Wer allerdings zurückblickt wird feststellen, dass es vor zehn Jahren noch nicht einmal ein Smartphone gab und Facebook gerade erst erfunden wurde. Warum sollte die Gesellschaft nicht von noch ganz anderen Lösungen profitieren, wo doch heute schon viele Senioren zu den „Digital Immigrants“ gehören?

Experten sehen ohnehin die Gesellschaft im Wandel, ganz unabhängig von der Demografie. Soziale Netzwerke, Skype, Telemedizin, online-Fortbildungen sind digitale Errungenschaften, die das Leben verändern und gerade den Älteren enorm nutzen. Und wenn sich wegen der Rentenfrage die Lebensarbeitszeit verlängern wird, kann das Home-Office am Netz eine gute Übergangslösung sein. Optimisten wie Dr. Gerd Landsberg vom Deutschen Städte- und Gemeindebund befürworten ausdrücklich diese Entwicklung: „Ich glaube sogar, dass die Menschen damit glücklicher werden.“

Der Text erschien zuerst am 27. August 2016 im Tagesspiegel anlässlich einer Sonderbeilage zum Demografiekongress am 1. und 2. September. 

Hauptkategorien: Berlin , Demografischer Wandel
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